§ 2 Abs. 1 S. 1 GewStG in Verbindung mit § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG: Seitwärtsabfärbung bei Verlusten aus gewerblicher Tätigkeit einer ansonsten vermögensverwaltenden GbR – Aufgabe der Rechtsprechung des BFH vom 12.04.2018 – IV R 5/15, BStBl. 2020 II 118

BFH vom 30.06.2022 – IV R 42/19, BStBl. 2023 II 118

[Vorinstanz: FG München vom 26.06.2016 – 2 K 2245/16, NWB GAAAH-31983]

Der Gewerbesteuer unterliegt der inländische stehende Gewerbebetrieb, § 2 Abs. 1 S. 1 GewStG.

Gewerbebetrieb im Sinne des § 2 Abs. 1 GewStG ist der einkommensteuerrechtliche Gewerbebetrieb. Das kann sowohl der originäre Gewerbebetrieb im Sinne des § 15 Abs. 2 EStG sowie der fiktive Gewerbebetrieb im Sinne des § 15 Abs. 3 EStG sein. Nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG gilt die Tätigkeit einer Personengesellschaft in vollem Umfang als Gewerbebetrieb, die mit Einkünfteerzielungsabsicht unternommen wird, wenn die Gesellschaft auch eine Tätigkeit im Sinne des § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG ausübt (1. Var.) – sog. Seitwärtsabfärbung – oder gewerbliche Einkünfte im Sinne des § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG bezieht (2. Var.) – sog. Aufwärtsabfärbung -. Das gilt nach geänderter Gesetzeslage unabhängig davon, ob aus der Tätigkeit ein Gewinn oder Verlust erzielt wird oder die bezogenen Einkünfte positiv oder negativ sind. Die Regelung ist nach § 52 Abs. 23 S. 1 EStG mit Rückwirkung ins Gesetz aufgenommen worden.

Der Tatbestand der Seitwärtsabfärbung setzt also voraus, dass zumindest zwei voneinander trennbare Tätigkeiten vorliegen, BFH vom 28.09.2017 – IV R 50/15, BStBl. 2018 II 89.

Läge nämlich nur eine nicht trennbare Tätigkeit vor, wäre das Tatbestandsmerkmal „auch eine Tätigkeit im Sinne des § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG ausübt“ nicht erfüllbar. Denn der Gesetzgeber bringt mit der Formulierung „auch“ ein Nebeneinander zum Ausdruck. Läge nur eine einheitliche nicht trennbare Tätigkeit vor, würde sich die Frage der Qualifikation der Einkünfte nach dem Schwerpunkt dieser Betätigung richten. Mithin läge insgesamt eine gewerbliche Tätigkeit vor, wenn der gewerbliche Teil der Tätigkeit diese prägen würde. Umgekehrt läge insgesamt eine nicht gewerbliche Tätigkeit vor, wenn die gewerblichen Elemente einer Tätigkeit dieser nicht das Gepräge geben, BFH vom 27.08.2014 – VIII R 6/12, BStBl. 2015 II 1005; BFH vom 14.07.2016 – IV R 34/13, BStBl. 2017 II 175.

Liegen trennbare Leistungen vor und qualifiziert eine davon als gewerbliche Tätigkeit, löst das die Rechtsfolgen des § 15 Abs. 3 Nr. 1 S. 1 1. Var. EStG aus. Es kommt zur Seitwärtsabfärbung. Die Seitwärtsabfärbung – auch Infektion genannt – tritt nach dem Wortlaut des § 15 Abs. 3 Nr. 1 S. 1 1. Var. EStG ohne Rücksicht auf Art und Umfang der gewerblichen Tätigkeit ein. Damit führt nach dem Wortlaut der Norm auch eine für sich betrachtet geringfügige Betätigung oder eine im Verhältnis zur Gesamttätigkeit vernachlässigbare Betätigung gewerblicher Art zur Umqualifizierung der Einkünfte der gesamten Personengesellschaft, so noch BFH vom 10.08.1994 – I R 133/93, BStBl. 1995 II 171. Die strikte Orientierung am Wortlaut der Norm wirft die Frage nach der Verhältnismäßigkeit auf. Der BFH arbeitet in der Folgezeit heraus, dass gewerbliche Tätigkeiten, die im Verhältnis zur Gesamttätigkeit unbedeutend sind, die Rechtsfolge der Infektion nicht auslösen, BFH vom 11.08.1999 – XI R 12/98, BStBl. 2000 II 229; BFH vom 08.03.2004 – IV R 212/03, BFH/NV 2004, 954 betreffend einer Quote von 2,81 %. Zur Vermeidung der Begünstigung großer Personengesellschaften wurde diese (auf 3 % aufgerundete) relative Bagatellgrenze mit den Urteilen des BFH vom 27.08.2014 – VIII R 16/14, BStBl. 2015 II 996 und BFH vom 27.08.2014 – VIII R 6/12, BStBl. 2015 II 1002 um eine absolute Umsatzgrenze von EUR 24.500 ergänzt. Auch vor dem Hintergrund der von der Rechtsprechung herausgearbeiteten Bagatellgrenzen, die von der Finanzverwaltung für den Vollzug der Steuergesetze übernommen wurden, erkannte das Bundesverfassungsgericht die Regelung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 [S. 1] 1. Var. EStG als mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar an, BVerfG vom 15.01.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1.

Soweit die Rechtsprechung die relative und absolute Bagatellgrenze im Rahmen der Abfärbung auf Einkünfte aus § 18 EStG herausgearbeitet hat, steht das der Übertragung dieser Grundsätze auf die Infektion vermögensverwaltender Einkünfte nicht entgegen. Insbesondere ergeben sich aus den wirtschaftlichen Folgen der Abfärbung, die im Fall der Abfärbung auf vermögensverwaltende Einkünfte deutlich gewichtiger sein können als im Fall der Abfärbung auf betriebliche EInkünfte keine Gründe, die für erweiterte Bagatellgrenzen sprechen.

Dafür spricht insbesondere, dass die Auslagerung gewerblicher Einkünfte auf Schwestergesellschaften, die in der Rechtspraxis anerkannt wird, BFH vom 19.02.1998 – IV R 11/97, BStBl. 1998 II 603 und die vom Bundesverfassungericht im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Abfärbung als rechtfertigendes Element eingefordert wurde, BVerfG vom 15.01.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1. Die Anerkennung der Schwestergesellschaft setzt in diesem Zusammengang voraus, dass die Schwestergesellschaft nach außen in Erscheinung tritt und bspw. ein eigenes Bankkonto unterhält, eigene Rechnungsvordrucke verwendet, eine eigenständige Buchführung unterhält und eine getrennte Ergebnisermittlung vornimmt, BFH vom 15.12.1992 – VIII R 52/91, BFH/NV 1993, 684. Im Fall der Auslagerung gewerblicher Tätigkeiten aus einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft besteht das Risiko der Begründung einer Betriebsaufspaltung. Diese setzt jedoch voraus, dass das Betriebsunternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht betrieben wird, denn diese wird von § 15 Abs. 2 EStG bei jeder gewerblichen Tätigkeit vorausgesetzt. Arbeitet das Betriebsunternehmen nur kostendeckend oder gar mit Verlust sind die Voraussetzungen der Betriebsaufspaltung nicht gegeben. Zudem besteht bei vermögensverwaltenden Personengesellschaften wegen § 39 Abs. 2 Nr. 2 AO die Möglichkeit, dass Wirtschaftsgüter aus der Vermögensverwaltung in das Sonderbetriebsvermögen I bei dem Betriebsunternehmen gezogen werden.

In der jüngeren Rechtsprechung des BFH wurde die Abfärbung für den Fall des Verlustes bei ansonsten gegebener Gewinnerzielungsabsicht für gewerbesteuerliche Zwecke abgelehnt, BFH vom 12.04.2018 – IV R 5/15, BStBl. 2020 II 118. Dieser Rechtsprechung ist die Gesetzgeber durch die Anfügung eines Satzes 2 in § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG entgegengetreten. Nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 S. 2 1. Var. EStG findet die Abfärbung danach unabhängig davon Anwendung, ob aus der gewerblichen Tätigkeit ein Gewinn oder Verlust erzielt wird. Die Regelung wurde im Jahr 2019 mit Rückwirkung aufgenommen, § 52 Abs. 23 S. 1 EStG. Dem steht auch das aus dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutz hergeleitete grundsätzliche Rückwirkungsverbot nicht entgegen, BVerfG vom 07.07.2010 – 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1. Dieses findet Anwendung, wenn der Gesetzgeber eine bereits enstande Steuerschuld nachträglich zu Lasten der steuerpflichtigen Person abändert, BVerfGE 10.10.2012 – 1 BvL 6/07, BVerfGE 132, 302, also ungünstigere Folgen an den gesetzlichen Tatbestand knüpfen, als diejenigen von denen der Bürger bei seinen Dispositionen ausgehen durfte. Ausnahmsweise ist eine rückwirkende Änderung zulässig, wenn sie eine redaktionelle Änderung des Gesetzes betrifft, BVerfG vom 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1. Darüber hinaus ist die rückwirkende Änderung einer gesetzlichen Regelung zulässig, wenn kein schützenswertes Vertrauen bestanden hat. Das ist bspw. dann der Fall, wenn die Rechtslage unklar und verworren war, BVerfG vom 15.10.2008 – 1 BvR 1138/06, BVerfGK 14, 338 oder weil eine Zustand allgemeiner und erheblicher Rechtsunsicherheit eingetreten war und für eine Vielzahl Betroffener Unklarheit darüber herrschte, was rechtens sei, BVerfG vom 02.05.2012 – 2 BvL 5/10, BVerfGE 131, 20. Ebenso verstößt es nicht gegen das Rückwirkungsverbot eine Rechtslage rückwirkend festzuschreiben, die vor einer Rechtsprechungsänderung einer gefestigten Rechtsprechung und einheitlichen Rechtspraxis entsprach, BVerfG vom 15.10.2008 – 1 BvR 1138/06, BVerfGK 14, 338. Allerdings kann sich nach einer Rechtsprechungsänderung ein Vertrauen in den Bestand der geänderten Rechtsprechung neu bilden, das einer rückwirkenden Änderung entgegensteht.